Alle roten Pfeile kamen aus dem Osten – zu Recht?

Dieser Beitrag wurde zuerst am 18. August 2010 auf dem Blog der GGstOf publiziert. Nachdem ich den Vorstand der GGstOf verlassen habe, wurden alle Blogbeiträge aus meiner Zeit als Chef Kommunikation offline gestellt. Leider sind darunter auch einige Beiträge, die auch im Nachhinein noch sehr interessant wären. Einer dieser Beiträge ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich werde daher den Beitrag erneut publizieren.


Rund 50 Gäste fanden sich im Juni [2010] zur Vernissage zweier weiterer Bände der Generalstabsgeschichte in Genf ein. Zum einen wurde durch Dimitry Queloz der lang ersehnte Band IV (1874–1906) in französischer Sprache präsentiert und zum andern der hier kurz vorgestellte Band XI (das Bild und die Bedrohung der Schweiz 1945–1966 im Lichte östlicher Archive) durch Hans Rudolf Fuhrer und Matthias Wild.

Fuhrer, Militärhistoriker und mehrfacher Buchautor, skizzierte in seinem Einführungsreferat die Forschungsschwerpunkte der über 600 Seiten starken Studie: Ideologie des Kommunismus, Militärdoktrin der Sowjetunion und ihr Verhalten in ausgewählten Ereignissen und Entwicklungen des Kalten Krieges, das Bild der Schweiz in der Wahrnehmung des Ostblocks, das schweizerische «Feindbild» und die militärischen Planungen des Warschauer Vertrages in Bezug auf Westeuropa.

Der Osten fürchtete den Westen
Für die vorliegende Studie von besonderem Interesse war Marschall Kulikovs Aussage, die sowjetische Führung habe zu keinem Zeitpunkt eine Aggression gegen den Westen und erst recht nicht gegen die Schweiz geplant („Ich sage es nochmals deutlich: Es gab keine Vergeltungs- oder Angriffspläne gegen den Westen.“): Nach den Konferenzen von Jalta und Potsdam sei die Teilung Europas beschlossene Sache gewesen und habe nicht mehr zur Diskussion gestanden. Es sei deshalb historisch nicht korrekt, von Welteroberungsabsichten oder anderen machtpolitischen «Ambitionen» der UdSSR zu sprechen.

In den östlichen Quellen wurden vergleichbare Feindbilder gefunden: Der Westen will uns überfallen; wir müssen 365 Tage bereit sein, um dieser Aggression eine adäquate Antwort zu geben. Der Osten nahm den Westen als aggressiv wahr und wir alle wissen es aus eigener Erfahrung: Wir haben den Osten als äusserst bedrohlich und aggressiv wahrgenommen. Es lag also – laut Fuhrer – eine gigantische Absichtsspiegelung vor.

Daraus entstand die WAPA-Doktrin: Zurückschlagen des westlichen Angriffs und dann terrestrische Gegenoffensive (Vergeltungsangriff). Die Verteidigung wird ausschliesslich offensiv geführt; der Krieg findet auf dem Boden des Aggressors statt.

Die Schweiz und die bewaffnete Neutralität
Die Studie kommt weiter zum Schluss, dass die Schweiz aus der in der DDR, Ungarn und in der Tschechoslowakei eingesehenen militärischen Planung des Warschauer Vertrages – leider hat die Russische Föderation die Einsicht in die Archive der Sowjetunion verweigert – ausgeklammert worden war. Sie erwähnt dafür mehrere Gründe:

  • Militärgeographisch war die Schweiz als Durchmarschraum zur Vernichtung der Armeen westeuropäischer Nato-Staaten in einer „vom Westen aufgezwungenen“ totalen kriegerischen Auseinandersetzung nicht von Bedeutung.
  • Operativ bot sie mit ihrer bewaffneten Neutralität dem Warschauer Vertrag namhafte Vorteile wie beispielsweise ein passiv-aktiver linker «Flankenschutz». Die militärischen Vorbereitungen der Schweiz deuteten darauf hin, dass ein Durchmarsch langwierig und verlustreich werden würde.
  • Auch wenn zweifellos eine kulturelle, wirtschaftliche und ideologische Zugehörigkeit zum Westen bestand, so gab es politisch keine widerspruchsfreien Vermutungen, ⚠️ dass die Eidgenossenschaft ohne Zwang die Neutralität bereits vor einem Angriff auf ihr Territorium aufgeben würde.⚠️
  • Nachrichtendienstlich war eine neutrale Nachrichtenplattform in der Mitte des gegnerischen Blocks wertvoll. Die meisten nachrichtendienstlichen Vorbereitungen und Tätigkeiten deuten auf diese Nutzung des neutralen Territoriums hin (legale und illegale Residenten, Gelegenheit für Treffs, Vorteil des Zweitlandes, Kontakte zu fremden Nachrichtendiensten usw.).

In der Studie werden noch weitere Gründe angegeben, welche die Annahme stützen, ⚠️ dass die Schweiz bei einem östlichen Angriff auf Westeuropa so lange verschont geblieben wäre, solange sie strategisch-operativ keine wichtige Rolle spielte und eine glaubwürdige bewaffnete Neutralität beibehielt. ⚠️

Zur Beurteilung wurden zwei Schlüsselmeldungen des Nachrichtendienstes in Bezug auf die Schweiz herangezogen:

  1. Bleibt die Schweiz neutral, kann und will sie die Neutralität politisch führen und auch militärisch schützen? ⚠️
  2. Respektiert auch die NATO das neutrale Territorium?

Der Schweizer Generalstab plante richtig
Fuhrer äusserte vor den Gästen trotz dieses überraschenden Resultats die Überzeugung, dass sich die Überlegungen und konzeptionellen Verteidigungsvorbereitungen des schweizerischen Generalstabs 1945–1966 als fachlich weitgehend richtig erwiesen haben. Es galt den «gefährlichsten» Fall vorzubereiten und die globale Lage wurde in der Forschungsperiode mehrmals als gefährlich wahrgenommen.

Angesprochen auf die Stimmen, welche jetzt den fehlenden «Angriffsplan Schweiz» zum Anlass nehmen werden, insbesondere die «unnützen» Militärausgaben zu kritisieren, erwiderte Fuhrer, dass es „fahrlässig sei anzunehmen, dass die Respektierung der neutralen Schweiz in den östlichen Planungen der Anfangsphase eines europäischen Krieges gleich ausgesehen hätte, wenn wir unsere Landesverteidigung vernachlässigt oder gar aufgegeben hätten„. Das Schimpfwort des sicherheitspolitischen „Trittbrettfahrers“ wäre dann berechtigt gewesen. Dass die Neutralität per se nicht schützt, zeigt das Beispiel Österreichs in den ungarischen Planungen. Die österreichische Neutralität wurde nie respektiert.


Kommentar

  1. Wir erleben heute erneut eine gigantische Absichtsspiegelung. Doch heute sind – zumindest objektiv betrachtet – die aggressiven Absichten und Handlungen des Westens viel stärker als jene des Ostens. Zwar wird uns in den gleichgeschalteten Medien stets das Gegenteil eingetrichtert, doch bei näherer Betrachtung fallen diese Vorwürfe in sich zusammen. Es ist daher mehr als nur wahrscheinlich, dass auch während des Kalten Krieges der Westen aggressiver aufgetreten ist (z.B. die “Kuba-Krise”, die aber auch als “Türkei-Kuba-Krise” betitelt werden könnte) als es bisher die Öffentlichkeit wahrhaben will. Die Geschichte wiederholt sich aktuell.
  2. Sollte Russland aktuell erneut einen Stoss (“aktive Verteidigung durch Angriff und Vernichtung des Gegners auf seinem Gebiet”) quer durch das praktisch unverteidigte, waffen- und willenlose Europa planen, so dürfte einmal mehr die Schweiz und zur Diskussion stehen. Schliesslich hat sich die Schweiz für eine Mitgliedschaft in der russischen “Liste unfreundlicher Staaten” qualifiziert und steht somit nicht mehr auf der neutralen Seite, sondern auf der Seite des Westens. Die (rüstungs-)politische Nähe zur NATO (PfP) dürfte den Eindruck verstärken, dass die Schweiz nicht mehr gewillt, geschweige denn in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Es braucht wohl aktuell nur eine False-Flag-Operation im Herzen der Schweiz und die sofortige Identifikation des gewünschten, opportunen Übeltäters (Russland) um die Schweiz in die Arme der NATO zu drängen. Aktuell liesst man immer wieder – auch vom CdA selbst –, dass die Schweiz nicht verteidigungsfähig sei! Wie ich schon lange prophezeie: Das ist die ideale Voraussetzung, um die NATO als “Weissen Ritter” darzustellen, welche dann die Sicherheit der Schweiz garantieren würde. Die Schweiz müsste dann nicht Truppen stellen, sondern man könnte sich auf die finanzielle Unterstützung der Frontstaaten beschränken (z.B. Polen –Die Kontonummer ist ja hinlänglich bekannt aus den Kohäsions- und Ostmilliarden). Analog wie bei der Ukraine würden diese Frontstaaten dann bei den USA Waffen leasen (!), vorfinanziert durch andere Staaten wie z.B. der Schweiz. Das könnte z.B. die gewünschte “engere Kooperation” mit der NATO sein, von der der aktuelle FDP-Präsident träumt. Ob man sich mit dieser Strategie aus einem Krieg heraushalten könnte, will ich hier nicht näher ausführen. Am Schluss entscheidet Russland, ob die Schweiz als neutraler Staat anerkannt würde. Bitte lesen Sie nochmals die Voraussetzungen von oben – viel wird sich nicht geändert haben.
  3. Aus meiner Sicht plante der Schweizerische Generalstab vielleicht richtig, aber – wie es schon Div Däniker sagte – in die falsche Richtung! Damals wie heute versagt der (unterwanderte) Nachrichtendienst. Dieser schafft es nicht, hinter den Vorhang zu blicken und zu erkennen, welches Spiel hier auf der öffentlichen Bühne abgeht. Lieber tauscht er sich mit NATO-hörigen Vasallen-Nachrichtendiensten ab die – wie könnte es anders sein – natürlich einmal mehr im Osten das Böse zu sehen glauben. Würde endlich dieser “geopolitische Fehler 2. Art” erkannt und würde zudem der politische Wille bestehen, diesen Fehler einzugestehen und sich komplett neu aufzustellen, dann würde auch erkannt, dass die aktuelle Armee- und Rüstungsplanung komplett an der Realität vorbeigeht. Bis diese Realität einsetzen wird, braucht es noch ein paar lehrreiche Jahre – leider!
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1 Response to Alle roten Pfeile kamen aus dem Osten – zu Recht?

  1. François Villard says:

    Excellent article que je pourrais citer dans notre journal Giardino News.

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