Ungenügende Leistung = Verfassungswidrige Armeereform

Wir blicken angesichts der aktuellen Diskussion über den Zustand der Schweizer (WEA-) Armee einmal auf die Argumentation zurück, die im Zusammenhang mit der Unterschriftensammlung für ein Referendum gegen die WEA angeführt wurde. Heute Teil 1, wo es um die Mannschaftsstärke und dem Leistungsprofil der Armee geht:

Ob die Armeereform verfassungskonform oder verfassungswidrig ist, entscheidet sich darin, ob die in der Bundesverfassung aufgeführten Aufträge erfüllt werden können. Dazu muss man kein Jurist sein – im Gegenteil.

In einem Beitrag in der ASMZ 01/02 2016, Seite 8ff haben Robert Wieser (Chef Recht im Generalsekretariat VBS) und Dr. Gerhard Saladin (Chef Rechtsetzung im Generalsekretariat VBS) dargelegt, wieso die Armeereform verfassungskonform sein soll. Bei näherer Betrachtung fällt die Argumentation jedoch in sich zusammen:

Beurteilung durch die Väter der Reform

Bundesrat und Parlament, aber auch die Juristen der Bundesverwaltung haben die Armeereform WEA als verfassungskonform beurteilt. Doch bisher fehlt ein Dokument, welches das Leistungsprofil der neuen Armee mit den Vorgaben der Bundesverfassung vergleicht. Es handelt sich also um eine rein VBS-interne, juristische Auslegung. Sollte womöglich das Ergebnis vor der eigentlichen Prüfung feststehen? Welche Bundesbehörde hat schon den Mut, das eigene Handeln als verfassungswidrig einzuschätzen?

Die korrekte, aber nie überprüfte Hypothese

Das Bürgerkomitee gegen die WEA bemängelte im Zuge der Unterschriftensammlung insbesondere den Sollbestand von 100’000 Angehörigen der Armee (AdA). Zum Glück wird dieser Sollbestand und damit die Verfassungskonformität von den VBS-Juristen hergeleitet.

Die beiden Rechtsexperten definieren:

“Der Sollbestand ergibt sich indirekt aus der BV, in dem die Armee die ihr auferlegten Aufgaben erfüllen muss.”

Und weiter:

“Bei diesem Sollbestand müssen primär die Kernaufgaben der Armee in den Bereichen Verteidigung, Friedenssicherung und Unterstützung der zivilen Behörden bei der Bewältigung ausserordentlicher Lagen gewährleistet werden.”

Dieser Definition erscheint sinnvoll und korrekt. Leider liefern die beiden Juristen keine Prüfung, ob mit der Armeereform die Anforderung der Bundesverfassung erfüllt wird. Die Armeereform wird einfach als “verfassungskonform” erklärt.

Klare Definition von Verteidigungsfall

Konzentrieren wir uns im ersten Schritt auf den eigentlichen Kernauftrag der Armee, den Verteidigungsfall. Dieser liegt aus Sicht der VBS-Juristen in diesen Fällen vor:

“Die territoriale Integrität, die gesamte Bevölkerung oder die Ausübung der Staatsgewalt sind konkret bedroht;

Es handelt sich um eine zeitlich anhaltende Bedrohung, die über eine punktuelle zeitliche Bedrohung hinausgeht;

Es handelt sich um eine landesweite Bedrohung, die über eine örtliche oder regionale Bedrohungslage hinausgeht, wobei das Niveau der Bedrohung nicht im gesamten Land gleich hoch sein muss;

Es handelt sich um eine Bedrohung, die eine solche Intensität (Angriffsähnlichkeit) erreicht, dass sie nur mit militärischen Mitteln bekämpft werden kann.”

Die Hypothese auf dem Prüfstand

Die Kernaufgabe “Verteidigung” muss also primär gewährleistet werden. Für eine Beurteilung der Verfassungskonformität sind daher folgende Fragen relevant:

  • Kann die Armee mit einem Sollbestand von 100’000 Angehörigen die “gesamte Bevölkerung” verteidigen?
  • Kann die Armee mit einem Sollbestand von 100’000 Angehörigen eine “zeitlich anhaltende Bedrohung, die über eine punktuelle zeitliche Bedrohung hinausgeht” begegnen?
  • Kann die Armee mit einem Sollbestand von 100’000 Angehörigen eine landesweite Bedrohung bekämpfen?

Die Hypothese fällt bei der Prüfung durch

Wir ziehen zur Beurteilung der drei Fragen das Leistungsprofil der WEA (siehe Kapitel 4.1ff im Erläuternden Bericht Rechtsgrundlagen WEA) zu Rate.

Zunächst fällt auf, dass die “Verteidigung” des Landes weder in den “nicht vorhersehbaren” noch den “vorhersehbaren” Leistungen aufgeführt ist. Es wird einzig eine “Kernkompetenz Verteidigung” aufgeführt. Wie aus dieser Kernkompetenz in der von einem Gegner zugelassenen Zeit eine verfassungskonforme Leistung entstehen soll, steht nirgendwo geschrieben. Es gibt dazu auch kein pfannenfertiges Konzept. Auch der Zeitpunkt für den politischen Entscheid ist nicht definiert. Bereits hier fällt die Armeereform durch.

In Armeeführungskreisen wurde diese Abbildung dann noch verschlimmbessert. Dann sprach das VBS nicht einmal mehr von einer “Kernkompetenz”, sondern nur noch von “Fähigkeiten”. 

Auch bei den sekundären Aufträgen fällt die Armeereform durch

Bei der “Unterstützung der zivilen Behörden bei der Bewältigung ausserordentlicher Lagen” stellen sich uns die gleichen Fragen. Wie die Abbildung zeigt, dürfen die Kantone mit Leistungen von maximal 4 Wochen rechnen. Eine Ablösung ist nur “von Teilen” vorgesehen. Ist dies tatsächlich die Antwort auf eine “zeitlich anhaltende Bedrohung”? Eher nicht. Hier fällt die Armeereform ein zweites Mal durch.

Potenzierte Verfassungswidrigkeit

Zum Schluss verspricht uns das VBS: “Sämtliche im Leistungsprofil aufgelisteten Leistungen sind kumulativ, d.h. sie können bei Bedarf alle gleichzeitig erbracht werden.” – Ja, sie werden vermutlich gleichzeitig nach ein paar Wochen abgebrochen oder reduziert.

Das Problem ist allerdings: Ausserordentliche Lagen laufen meist parallel zu Verteidigungsoperationen. Die Armee müsste also alle oben aufgeführten Aufträge PLUS die Verteidigung des Landes gleichzeitig (!) erfüllen. Das ist etwas schwer zu glauben.

Fazit: Nicht erfüllt – Zurück an den Absender!

Die geplante Armee kann den Kernaufgaben nicht erfüllen. Die Armeereform WEA bzw. die Änderung des Militärgesetz ist eindeutig verfassungswidrig.

P.S. Welche Leistung bleibt noch?

Die neue Armee umfasst noch 100’000 AdA, davon 41’000 mit rein logistischen Aufgaben und 24’000 AdA, welche man zu den Kampftruppen zählen kann. Damit lassen sich weder die Kantone mit ihren Schutzbedürfnissen befriedigen. Selbst mit zwei lokalen Konferenzen ist die Armee bereits am Anschlag.

Wie gross ist also noch die Leistung, auf welche die Kantone zählen dürfen? Ein Rechenbeispiel:

Zunächst sind nur die Kampftruppen entscheidend. Sie bringen die Schutz- oder Verteidigungsleistung. Alle unterstützenden Truppen (Sanität, Logistik, Militärmusik, ABC-Truppen, Luftwaffe) leisten sicher einen Beitrag, ersetzen aber nicht den Soldaten beim Schutz der kritischen Infrastruktur. Von den 100’000 AdA bleiben also noch 24’000 AdA der Kampftruppen übrig.

Nicht alle Truppen können gleichzeitig im Dienst stehen. Dazu reichen schon gar nicht das übriggebliebene oder beschaffte Korps-Material (Waffen und Systeme) oder die Fahrzeuge. Also wird man bei Einsätzen über längere Zeit mit Ablösungen arbeiten müssen. Spätestens nach drei Monaten Einsatz sind die Truppen ausgelaugt und müssen ausgewechselt werden.

24’000 Kampf AdA à 4 Ablösungen pro Jahr = 6’000 AdA pro Ablösung (jeder Einsatz dauert länger)

Die 6’000 AdA können nicht Tag und Nacht im Einsatz stehen. Es braucht Zeit zum Schlafen, Essen, Retablieren, für Ausbildung, Sport und sogar einmal etwas Freizeit. Bei meinem Einsatz vor den Botschaften in Genf haben wir mit einer 4er-Ablösung gearbeitet.

4 Ablösungen / Einsatz = 1’500 AdA pro Einsatz

Es bleiben somit noch 1’500 AdA permanent im Einsatz – Tag und Nacht, Wochenende oder Arbeitstag.

Auch bei den Kampftruppen gibt es unterstützende Funktionen, wie etwa die Küchenmannschaft, Büropersonal oder natürlich die Führung selbst. Dazu kommen krankheits- und unfallbedingte Ausfälle. Auch der Selbstschutz darf nicht vergessen werden. Rund 20% sollten deshalb abgezogen werden.

Führung, Logistik, Uem (ca. 20%) = es bleiben 1’200 AdA

Wenn alle Kantone gleichermassen betroffen sind und die Leistung ohne Rücksicht auf Kantonsgrösse, Bevölkerungmenge, Dichte an kritischer Infrastruktur, etc. verteilt werden, bleiben noch rund 50 AdA pro Kanton übrig (der Einfachheit halber mit 25 statt 26 Kantonen gerechnet).

1’200 AdA / 25 Kantone = 48 AdA pro Kanton und Einsatz

Getreu dem Grundsatz, dass “ein Mann = kein Mann”, müssten überall Doppelpatrouillen eingesetzt werden. Es bleiben 24 Posten/Patrouillen pro Kanton.

Kein Wunder können die Kantone höchstens mit einer “Überwachungsleistung” rechnen…

Mir ist keine Armee bekannt, welche einmal “zu viele Soldaten” hatte. Die relativ günstige Reserve (für Ablösungen) wird kopflos aufgegeben.

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