Viele im Westen wurden durch die Sonderoperation der Russen in der Ukraine auf dem falschen Fuss erwischt. Der seit 2014 schwellende innerstaatliche Konflikt war und ist vielen nicht bewusst. Die grundlegenden Probleme mit ihrem geschichtlichen Hintergrund, welche die Operation verständlicher erscheinen liessen, sind selbst heute den Entscheidungsträgern unbekannt. Man hat das Gefühl, dass alles, was vor dem Einmarsch passiert ist, inexistent ist.
Die Einschätzungen zur Lage basiert einzig auf westliche (NATO-)Quellen. Andere Quellen werden ignoriert oder wie es heute heisst “gecancelt”. Entsprechend einseitig ist die Beurteilung der Lage. Wie sehr sie den Tatsachen entspricht, wird man erst Jahre später erkennen.
Vom Konflikt völlig aufgeschreckt, ist auch die Schweizer Politik erwacht. Die “Armeefreunde” im rechten Lager nutzen die Gunst der Stunde und verweisen darauf, dass sie ja schon immer davor gewarnt hätten, dass ein Krieg in Europa möglich sei. Nun sei es an der Zeit, endlich “Gegensteuer” zu geben.
Sie vergessen dabei aber komplett, dass es genau sie waren, welche in den vergangenen 30 Jahren die Armee heruntergefahren haben. In groben Zügen ging das so:
Die Abstimmung über die Abschaffung der Armee vom 26. November 1989 – wenige Tage nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 – war eine Zäsur. Es war der Start einer unheilsamen Entwicklung. Viele glaubten mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs, dem absehbaren Zusammenbruch des Ostblocks, dem Abzug der Russen aus Afghanistan, der baldigen Auflösung der Sowjetunion und des “Warschauer Paktes”, dass der ewige Frieden vor der Türe stehen würde. In der Luft schwebte ein grosser Aufbruch, den Beginn der IT-Revolution und des baldigen Jahrtausendwechsels. Jetzt war die positive Zeit gekommen. Hurra!
Die etwas in Verruf geratene Schweizer Armee (siehe auch Abstimmung über die Rothenthurm-Initiative) mit ihrem starren Verteidigungskonzept stand komplett schief in der Landschaft. Die Reform “Armee 95” war bereits angestossen und bekam mit den historischen Ereignissen nochmals kräftig Schub. 1996 trat die Schweiz der “Partnerschaft für den Frieden (PfP)” bei. Wer wollte da schon gegen den Frieden politisieren? Nur wenige mahnten, dass dies der “Vorhof” einer NATO-Vollmitgliedschaft sein würde.
Die Armee 95 wurde umgesetzt und sofort stellte man fest, dass das Konzept noch nicht ganz den neuen geopolitischen Realitäten entsprach. Also wurde sofort mit der Planung für die “Armee XXI” begonnen. Da wollte man den neuen Gegebenheiten nun wirklich Rechnung tragen.
Von den einst 650’000 Ada der Armee 61 (eigentlich über 800’000 AdA) blieben in der Armee 95 noch 420’000 AdA. Mit der Armee XXI reduziert man die Zahl erneut um 50% auf noch 220’000 Ada (davon fast die Hälfte als Reserve). Mit dem “Entwicklungsschritt 08/11” gab es weitere Arrondierungen (Auflösung von Verbänden) und dank der “Weiterentwicklung der Armee (WEA)” wurde die Armee in einem vierten Schritt auf noch 100’000 Ada zurückgefahren.
Treiber der Reformen waren dabei stets die “Bürgerlichen”, welche sowohl das Oberkommando im EMD/VBS inne hatten wie auch in den Parteien und Milizorganisationen für die Reformen entraten. “Weniger Fett, mehr Muskeln”, “Betriebskosten senken”, “Ballast abwerfen” und natürlich “die Armee weiterentwickeln” waren gängige Schlagworte.
Die Linke und die GSoA hatten dabei wenig zu tun. Ihre Aktionen dienten mehr dem Aufrechterhalten der Drohkulisse und der Darstellung eines Gegners. Die Bürgerlichen erledigten die Arbeit selbst.
Interessant in diesem Zusammenhang: Das Risikomanagement, also die Frage, was man bei einer Fehlbeurteilung tun würde. In der Armee XXI hatte man wenigstens noch ein “Aufwuchskonzept”, welches zwar komplett untauglich und unrealistisch war (es fehlten die Schlüsselnachrichten, wann der Plan auszulösen wäre). Danach verzichtete man komplett auf diesen Fall. Von den Theoretikern liess man sich versichern, dass ein Konflikt eine Vorwarnzeit von 10 Jahren haben werde. Im Falle der Ukraine stimmt dies fast, denn so richtig schlimm wurde es ab 2014. Doch damals hat sich niemand mit Verantwortung getraut, die Richtung zu wechseln, denn das hätte bedeutet, die WEA zu opfern – was man natürlich nicht wolle/konnte.
Nur wenige Warner waren entlang des Weges zu finden: Pro Militia und zuletzt die Gruppe Giardino sind die bekannteren. Der Widerstand gegen PfP war schwach, gegen die Armee XXI wurde immerhin das Referendum ergriffen. Gegen die WEA scheiterte dann aber bereits das Referendum selbst. Die Phalanx aus SOG, bürgerlichen Parteien und der Wirtschaft, die noch so gerne einer Reduktion der Diensttage und des maximalen Dienstalters zustimmten, war zu stark. Wer wollte noch für die “Armee 61” kämpfen? Doch nur noch die “Ewig-Gestrigen” und die “Stahlhelmfraktion”.
Dass nun aber genau diese wenigen Gegner der Reformen Recht behalten würden, fällt aktuell nur wenigen auf. Schnell vergisst man, dass man für den Abbau der Armee war und fordert nun lauthals die Erhöhung des Militärbudgets. Das ist nicht nur scheinheilig, sondern v.a. auch unehrlich.
Die Befürworter des F-35 (und des Patriot-Flab-Systems) nutzen die Gunst der Stunde umso mehr und fordern nun eine rasche Beschaffung. Die Hürde einer Initiative muss beiseite geschoben werden. Sogar die Erhöhung des Armeebestands um 20% (!) wird gefordert. Man wähnt sich im Hühnerstall, wo nach dem Fauchen des Fuchses sich die Hühner kopflos im Kreis bewegen und sich dabei gegenseitig Angst einjagen.
Besonders interessant ist derweil die Kampagne der 5. Kolonne, welche nun subtil den Anschluss bzw. die Annäherung an die NATO befürworten. Hier ein paar Schlaglichter:
“Ein konventioneller Konflikt auf Schweizer Boden ist weiterhin wenig plausibel. Falls ein solcher stattfinden würde, dann würde diese Bedrohung mit grosser Sicherheit nicht die Schweiz isoliert betreffen, sondern Mitteleuropa als Kollektiv. Daher ist dem Aspekt der transnationalen Kooperation eine höhere Bedeutung beizumessen.“
avenir-suisse.ch
These 2:
Die Kampfjets F-35 sind für Einsätze in einem militärischen Verbund konzipiert. Erst dann können sie ihre volle Wirkung entfalten. Daher liege es nahe, sich wie etwa das neutrale Schweden oder Finnland an Nato-Übungen zu beteiligen. Dazu seien aber erst neutralitätspolitische Fragen zu klären.
avenir-suisse.ch
These 4:
Allfällige Fähigkeitslücken, z.B. in den mechanisierten Verbänden, könnten durch stärkere transnationale militärische Kooperation kompensiert werden.
avenir-suisse.ch
Auch der SP-Unsicherheitspolitiker Hug bläst ins gleiche Horn:
Und selbst Stefan Holenstein, ehem. Präsident der SOG drängt in die NATO:
…oder der FDP-Präsident:
In einem Beitrag in der NZZ vom 8. April 2022 schreibt der selbe Herr:
Die Schweiz als Kleinstaat ist in einem modernen Konflikt aus technologischen und finanziellen Gründen in der Regel nicht mehr in der Lage, sich autonom zu verteidigen. Unser Land ist im Falle eines Angriffs auf Zusammenarbeit mit anderen Streitkräften angewiesen. Ohne eine eigene, starke Armee und ohne Fokus auf die Interoperabilität der Systeme ist dies allerdings nicht möglich. Zudem ist die Schweiz nicht mehr von rivalisierenden Mächten, sondern von auf gleichen Werten basierenden Demokratien umgeben. Ein Angriff auf uns wird deshalb höchstwahrscheinlich mit einem Angriff auf diese Demokratien verbunden sein.
NZZ.ch
Eine solche Sicherheitspolitik ist mit unserer Neutralität vereinbar. Im unwahrscheinlichen Fall eines Konflikts zwischen diesen Demokratien bliebe die Schweiz neutral. Bei einem – noch un- wahrscheinlicheren – direkten Angriff erlaubt das Haager Neutralitätsrecht zudem eine militäri- sche Zusammenarbeit. Unbestreitbar ist, dass im modernen Konflikt diese Zusammenarbeit ohne Training und Interoperabilität illusorisch ist.
Die gegenwärtige machtpolitische Konstellation zeigt in aller Deutlichkeit, dass der Grundsatz der autonomen Verteidigungsfähigkeit in einem modernen Konflikt nicht mehr absolut gilt. Weder aus technologischer noch aus finanzieller Sicht kann heute eine auf sich gestellte Verteidigung gewährleistet werden.
“Die bodengestützte Luftverteidigung ist ein gutes Beispiel dafür: Mit dem System Patriot erhält die Schweiz die Fähigkeit zur autonomen Abwehr von ballistischen Lenkwaffen kurzer und mittlerer Reichweite zurück.
Der Bedrohung durch strategische Interkontinental- und Mittelstreckenraketen kann in Mitteleuropa aber nur ein internationaler Verbund Herr werden. Für die Schweiz heisst das konkret nur im Rahmen des Nato-Verbunds.
Die Sicht der Schweiz als sich autonom verteidigender Igel ist nicht mehr adäquat für die europäischen Konfliktszenarien des 21. Jahrhunderts: Sicherheit kann selten noch rein territorial verstanden werden. Diese Überlegung führt zu einer weitreichenden Erkenntnis: Die schweizerischeSicherheitspolitik hat sich seit dem Fall der Berliner Mauer zu wenig konsequent und realistisch weiterentwickelt.
Wir stellen nun fest, dass die Schweizer Sicherheitspolitik argumentativ mäandriert: irgendwo zwischen einer engen Auslegung der Neutralität, dem Faktum, dass der Nato-Gürtel um die Schweiz herum die Sicherheit gratis gewährleistet, und dem fehlenden Budget für die Landesverteidigung. Die Schweiz könnte im globalen Kontext plötzlich als sicherheitspolitische Trittbrettfahrerin wahrgenommen werden. Der Ukraine-Krieg legt schonungslos offen, dass auch unser Land die Friedensdividende aufgebraucht hat.
Russland greift die auf Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit beruhende westliche Weltordnung an. Es lehnt die ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Werthaltungen fundamental ab. Die hässliche Fratze des Krieges im Osten zeigt uns mit aller Schärfe, dass das Schicksal der Schweiz mit der Gemeinschaft demokratischer Staaten auf Gedeih und Verderb verbunden ist. Der Westen muss daher manu forte reagieren.
Partnerschaft – kein Nato-Beitritt
Wir stehen geschichtlich wieder an einer Schwelle, an der unsere Werte global herausgefordert werden. Hier kann der Platz der Schweiz nur an der Seite derjenigen sein, die unsere Werte verteidigen. […]Die neutralen Länder Finnland und Schweden haben uns seit längerem vorgemacht, wie eine funk-tionsfähige, moderne Neutralität aussehen kann. Sie traten bisher dem Nato-Bündnis nicht bei, weil dies mit ihrer Neutralität nicht vereinbar war. Aber sie nahmen an Nato-Übungen teil und rich-teten ihre Streitkräfte konsequent auf Interoperabilität aus. Allerdings wird aufgrund der aktuellen Ereignisse über einen Nato-Beitritt in den beiden Ländern wieder aktiver diskutiert.
Sollte die Schweiz militärisch bedroht sein, dürften weite Teile Europas – und da- mit die Nato – ebenfalls bedroht oder bereits im Krieg sein. Unser Land muss deshalb einen aktiven Beitrag zur Sicherheit Europas leisten. Ein überlegter Ausbau der militärischen Landesverteidigung ist deshalb ein Imperativ. […]
Abwehr im «Verbund»
Dabei sollten die Schweizer Armeeplaner eine Verlagerung bei der europäischen Streitkräfteplanung beachten, die mit dem Ukraine-Krieg verstärkt wird. Der fähigkeits- orientierte Ansatz prägte die letzten fünfzehn Jahre, als es galt, für hybride, uneindeutige Konflikte mit unbekannter Skalierung bereit zu sein. Heute stellt sich die Herausforderung, die fähigkeits- orientierte Streitkräfteplanung zwar beizubehalten, die verlangten Fähigkeiten aber ganz konkret an der Bedrohung – Krieg in Europa – zu messen.Neu hinzu kommt die Maxime, die Abwehr von Angriffen konsequent im «Verbund» zu realisieren. Die Schweiz tut daher gut daran, wenn sie zwar den den Nato-Beitritt aus neutralitätsrechtlichen Gründen nicht in Betracht zieht, aber eine viel engere, über die bestehende Partnership for Peace (PfP) hinausgehende Kooperation anstrebt zum Beispiel im Rahmen der Partnership Interoperability Initiative (PII) und als Enhanced Opportunities Partner (EOP). Denn für die Sicherheitsarchitektur in Europa wird auf unabsehbare Zeit die Nato massgebend sein.
Wer im Krieg kooperieren will, muss zuvor die Zusammenarbeit planen und trainieren sowie die Systeme aufeinander abstimmen. Hierzu muss die schweizerische Sicherheitspolitik mit dem Blick auf gegenwärtige sowie künftige Bedrohungsszenarien und ohne ideologische Scheuklappen dringend die notwendigen Weichen stellen. Ein entscheidender erster Schritt dazu ist die Sicherung der Verteidigungsfähigkeit im Alpenraum mit der Beschaffung der Kampfflugzeuge des Typs F-35.
NZZ.ch
Zuerst hält TB fest, dass die autonome Verteidigung nicht mehr möglich ist und dass nur eine Zusammenarbeit die Lösung des Problems wäre. Eine andere Lösung scheint nicht gewollt zu sein.
Dass die umgebenden Länder mögliche Aggressoren sein könnten, wird mit dem Hinweis auf “gleiche Werte basierende Demokratien” ausgeschlossen. Dass diese hochgelobten, kommunizierten “Werte” aber so gar nicht so toll umgesetzt werden, wie wir annehmen, scheint TB gar nicht zu erkennen. Entsprechend ist zu hoffen, dass diese umgesetzten Werte hoffentlich nicht jenen entsprechen, welche die Schweiz umsetzen will. Dass damit die umliegenden Staaten per se keine Gegner sein dürfen, stört TB offenbar nicht. Dieses Risiko scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren. Und dass das Gespann USA/NATO mit ihrer Politik nicht zum Frieden in Europa beitragen und schon gar nicht die Prosperität Europas im Sinne haben, ist ihm – wie so vielen – nicht bekannt. Wir haben es also mit einem klassischen Fall von einem “geopolitischen Fehler 2. Art” zu tun.
Der Präsident der SOG schwafelt in seiner Kolumne von Solidarität:
“Solidarität ist oft eine Einsicht in die eigene Unfähigkeit, im Alleingang nicht überleben oder gar siegen zu können.” und später “Auch Solidarität und Unabhängigkeit schliessen sich nicht aus, wie die militärische Friedensförderung es beweist. Solidarisch mit der UNO/OSZE, aber unabhängig, wenn es um die Umsetzung der Einsatzdoktrin geht. Eine militärische Kooperation in Friedenszeiten verstösst nicht gegen das Neutralitätsrecht, sofern sich die Schweiz dadurch nicht in kriegerische Handlungen hineinziehen lässt, wo die Gewaltanwendung im Zentrum der Operation steht (Caveat). Mit der Wahl des F-35A leistet die Schweiz einen soliden Solidaritätsbeitrag zur europäischen Sicherheitspolitik und Verteidigungsbereitschaft.”
Offenbar soll einem solidarischen Beitrag zur NATO nichts mehr im Wege stehen. Solidarität mit einer anderen Grossmacht wird dabei offenbar nicht angedacht geschweige denn gewünscht. Lieber setzt man mit dem F-35 (und den Patriots) Fakten, welche dann nur noch eine Schlussfolgerung ermöglichen.
Schützenhilfe kommt auch von Professoren, welche die Wichtigkeit der Neutralität herabsetzen. Da mag es hilfreich sein, mehr über die “Vereinigung La Suisse en Europe” zu lesen.
Und weiter geht’s:
Den Erfolg der Kampagne findet man in den Umfragen:
bzw. hier.
Die Liste ist nicht vollständig und kann fast täglich erweitert werden. Es scheint, als ob die Diskussion genau auf dieses Thema gelenkt werden muss.
Und damit sind wir bei meiner Prognose, welche sich nun bewahrheitet. Sie lautet:
Die Schweizer Armee wird seit 1990 kontinuierlich geschwächt, reduziert und zu Tode “weiterentwickelt”. Dieser Abbau hat zum Ziel, die eigenständige Verteidigung der Schweiz zu verunmöglichen. Am Tag X wird der Bundesrat vor das Volk treten und verkünden, dass eine eigenständige Verteidigung durch unsere Armee nicht mehr möglich ist: Es fehlt an Menschen, Waffen, Material, Munition, Fähigkeiten und einem Konzept, wie diese Verteidigungsfähigkeit wieder erreicht werden könnte. Als einzige, alternativlose (!) Lösung würde nur noch ein Beitritt zur NATO die Sicherheit der Schweiz garantieren.
Natürlich sagt man dies heute noch nicht so offen. Stattdessen spricht man von einer “engeren Zusammenarbeit/Kooperation” oder einem “solidarischen Beitrag”. Das sind aber nur Nebelpetarden, welchen den Blick auf das Ziel verschleiern. Denn schliesslich hat jede “Weiterentwicklung” ein strategisches Ziel. Wäre es die eigenständige Verteidigung der Schweiz, wären einige Eckwerte der Reformen komplett anders.
Aber zurück zur aktuellen Lage. Ehrlich gesagt, müsste der CdA und die C VBS nun eingestehen, dass die Armee für einen europäischen Konflikt nicht bereit ist. Zu viel Ungelöstes hat sich in den vergangenen Jahren angestaut. Die Armee ist unterdessen ein Flickwerk. Viele Waffensysteme hat man ohne Not aufgegeben, ohne einen adäquaten Ersatz bereit zu haben. Offenbar waren die Kosten für den Betrieb dieser System zu hoch oder das Ende der Lebenszeit wurde erreicht. Die Schrotthändler machten ein gutes Geschäft und auch die vielen zuvor noch geheimen Bunkeranlagen an strategisch wichtigen Stellen wurden entklassifiziert und teilweise zurückgebaut. “Vollständig ausgerüstet” ist höchstens ein Teil des Armeebestand, weil ja die Ablösung das Material der vorher eingesetzten Verbände nutzen kann. Keiner rechnet mit Verlusten – wie naiv, realitätsfremd, dumm!
Wollte man die Armee wieder aufbauen, würden – gemäss der Fausregel von Franz Betschon (sel.) – genauso viele Jahre vergehen, wie mit der Zerstörung der Armee. Das wären dann also grob 30 Jahre. Wir wären also 2050 wieder da, wo wir 1994 mal waren. Aber das nur nebenbei…
Würde man die Leistung der Schweizer Armee an einem Gegner wie Russland messen wollen, käme dabei sicher kein positiver Schlussbericht zustande. Zu gross sind die Unterschiede in nahezu sämtlichen Bereichen (Video). Bei einem Vergleich mit einem NATO-Gegner (bzw. der NATO selbst), sieht es wohl etwas besser aus. Aber “genügend” wären wir wohl kaum.
Wir stehen also vor dem Dilemma, dass die aktuelle Armee weder dem einen noch dem anderen Gegner standhalten würde. Der Knüppel ist morsch und wir sollten ihn nicht einsetzen.
Was wäre nun zu tun, wenn man sich eingestehen würde, dass die Armee aktuell “ungenügend” ist. Wäre eine Annäherung an die NATO nicht eine passende Antwort?
Vordergründig ja. Man wirft sich an die Brust des stärkeren “Grossen Bruders” und hofft, dass sich dieser ganz uneigennützig vor die Schweizer stellen würde, wenn auf sie geschossen würde. Dass dies aber nicht – zumindest nicht ohne Vollbeitritt – der Fall sein würde, sehen wir aktuell am Beispiel der Ukraine. Die Hilfe besteht einzig aus Sanktionen, Waffenlieferungen, diplomatischem Gedöns und nichtssagenden Zusagen. Kämpfen müsste die Schweiz selbst. Und ein NATO-Beitritt ist angesichts der aktuellen Neutralitäts-Freundlichkeit nicht zu machen. Dazu fehlt der Druck.
Wäre eine Annäherung an Russland eine Lösung? Wohl kaum, denn die NATO hat bereits mit Kaliningrad so seine Mühe, da wird es kaum ein russland-freundliches Land inmitten Europas akzeptieren.
Was als Lösungsansatz bleibt, ist die absolute Neutralität.
Aktuell lässt sich nicht abschätzten, wie der Konflikt weitergeht. Eine Eskalation ist ebenso möglich wie ein militärischer Sieg Russlands. Sich auf eine der Seiten zu stellen, kann also negative Konsequenzen mit sich ziehen. Diesem Risiko sollten wir uns nicht aussetzen.
Die Neutralität muss insbesondere “absolut” sein – nicht “situativ” oder “eingeschränkt”, nicht “vielleicht mal so oder so”. Der Konflikt ist komplett auszublenden. Die Schweiz sollte mit allen (!) Parteien sehr gute Beziehungen pflegen. Dazu gehören auch Staaten, die in der Öffentlichkeit eher negativ dargestellt werden.
Sanktionen sind komplett abzulehnen. Wenn wir kein direktes Problem mit dem Land haben, gibt es nichts zu sanktionieren. Druckversuche von anderen Ländern und Organisationen muss man aushalten und zurückweisen wollen. Ausserdem – so zeigt es sich gerade exemplarisch – treffen die Sanktionen weniger das Zielland, sondern die Verhänger dieser Sanktionen.
Mit dieser absoluten Neutralität (welche historisch sehr gute Dienste geleistet hat & bei der Bevölkerung sehr positiv (>90% Zustimmung) angesehen wird) treten wir aus der möglichen Zielscheibe. Denn es sind nicht die Worte, welche uns “neutral” geben, sondern die Taten. Das haben die Russen schon im Kalten Krieg klar gemacht und machen es noch heute:
“Zu hoffen sei, dass die «Schweizer Staatsführung» die Unverletzlichkeit der Neutralität «nicht nur für schöne Worte hält», schreibt die Sprecherin. «Auf dieser Grundlage werden wir die wahre ‹Qualität› des neutralen Status der Schweizerischen Eidgenossenschaft beurteilen», hält sie zum Schluss drohend fest.” – blick.ch
Da der Bundesrat mit der Übernahme der EU-Sanktionen aber bereits viel Geschirr verschlagen hat, müsste er sich bei den Russen entschuldigen (was ja nicht öffentlich geschehen muss), die Sanktionen zurücknehmen und die Neutralität erneut reaktivieren. Dazu sollte eine Absichtserklärung erstellt werden, wie die Schweizer Armee in Zukunft ausgerichtet werden soll, damit diese neutrale Position auch von allen Seiten (wieder) akzeptiert wird.
Oder kurz: Wer militärisch schwach ist, sollte sich aus Konflikten heraushalten, da er in einem Konflikt nicht bestehen könnte. Genau das wäre die Lösung. Ob jemand den Mut hat, dies politisch zu fordern?
Update 21. August 2022:
Das Aussendepartement will die Neutralität “weiterentwickeln”. Dass mit diesem Begriff meist nichts Gutes folgt, habe ich schon früher gezeigt. Nun soll es also die “kooperative Neutralität” sein, welche man anstreben will.
Gemäss dem Entwurf des Aussendepartements ist die kooperative Neutralität eine Weiterentwicklung des Status quo. Der Export von Rüstungsmaterial an Kriegsparteien bliebe verboten; in anderen Bereichen würde diese neu verstandene Neutralität dem Bundesrat aber mehr Handlungsfreiheit einräumen. So soll die Schweiz beim Export von Rüstungsgütern auf ein Wiederausfuhrverbot verzichten können. Das würde es Partnerstaaten wie Deutschland ermöglichen, Kriegsmaterial aus der Schweiz an die Ukraine zu liefern. Zudem würde die kooperative Neutralität der Schweiz erlauben, sich stärker mit der EU oder der Nato abzustimmen, heisst es im Bericht. Damit zeige das Land «Bereitschaft, mehr Mitverantwortung für die Sicherheit in Europa zu tragen». Um die kooperative Neutralität umzusetzen, wären demnach einige Gesetzesänderungen nötig.
blick.ch
Wie kann man sich “neutral” nennen, wenn man nur mit der EU und der NATO, nicht aber mit anderen Bündnissen (z.B. BRICS, SCO) kooperieren will? Das geht nicht! Widerspruch! Neutralität wäre entweder mit allen oder mit niemandem. Eine Zwischenlösung ist nicht neutral.
Aber natürlich hat man sich den Schein gewahrt, man wollen die beste Lösung.
Als weitere Möglichkeiten für die Weiterentwicklung der Neutralität listet der Bericht den Status quo auf, eine Ad-hoc-Neutralität, die integrale Neutralität oder einen Nato-Beitritt. Die letzten beiden Optionen seien «Polvarianten»: Die integrale Neutralität würde auf eine Reduktion der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Europa hinauslaufen; mit einem Nato-Beitritt gäbe die Schweiz ihre Neutralität auf. Diese Optionen sind laut Aussendepartement «nicht im Interesse der Schweiz». Eine Ad-hoc-Neutralität wiederum würde bedeuten, dass die Schweiz «fallweise» auf die Neutralität verzichtet.
blick.ch
Merken Sie’s? Die Integrale Neutralität ist “nicht im Interesse der Schweiz” Da bin ich ja mal auf die Begründung gespannt! Wieso gibt es nur die Möglichkeit, die Zusammenarbeit zu reduzieren, nicht aber auszubauen bzw. auf andere Machtbündnisse zu erweitern?
Der Bericht liefert das, was die Politik wünscht. Es ist ein Rechtfertigungsinstrument. Unbrauchbar!
Aber die Schlafwandler (Christopher Clark lässt grüssen) in Bern und anderswo werden weiter wandeln, bis zum Absturz. Geld ist jederzeit vorhanden, in den Köpfen braucht es erst den Wandel.
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